Wie in einem Märchen zieht das kräftige Rentier den Schlitten in gemächlichem Tempo durch eine Furt im weiss gezuckerten Wald in der Nähe von Levi. Von den übrigen Teilnehmern der Rentiersafari ist in der Einsamkeit nichts mehr zu sehen. Nur vereinzelt spähen Blockhütten durch das Dickicht der Bäume. Manchmal bückt sich das clevere Tier, damit sein Geweih nicht zu viel Schnee von den Ästen auf unsere Köpfe schüttelt.
Nach zwanzig Minuten Fahrt bei minus 20 Grad öffnet sich der schmale Weg in eine Lichtung, eine wohlverdiente Pause für die Tiere, um deren Pflege sich nun der Rentierhirt kümmert. In einer Art Tipi aus Baumstämmen wartet bereits der frisch aufgebrühte Tee, die Teilnehmer rücken dankbar näher ans Feuer. Lecker ist vor allem das zur Lauchsuppe gereichte finnische Roggenbrot, dessen typisch runde Form an grosse Bagels erinnert.
In der Runde erzählt Petra, die Eigentümerin einer der fünf Rentierfarmen bei Levi, über den Begleiter des Weihnachtsmanns, der hier auch „König der Tundra“ genannt wird. Etwa 200.000 Rentiere leben in Lappland, mehrheitlich halbwild. Wenn der Schnee im Frühjahr zu schmelzen beginnt, ziehen sie weiter nördlich zum Meer, um den Mücken zu entkommen. Bei Einbruch des Winters kehren die Tiere wieder in ihre Farmen zurück, einige werden per GPS beobachtet. Ihre nordischen Namen wie Einar, Barents und Nobile wecken Sehnsüchte an die grosse Zeit der Eroberer. Nur die Männchen ziehen Schlitten, dazu werden sie etwa vier Jahre ausgebildet. Für die Touristen steht noch Überlebenstraining auf dem Programm: beim Eislochangeln vor der Rückfahrt durchbohren wir die 20 cm dicke Eisdecke und fangen unseren Fisch selbst.
Am nächsten Tag geht es auf eine Hundeschlittenfahrt, ein Muss in Lappland. Darauf freuen sich auch die Huskys, die beim Anschnallen bereits ungeduldig durcheinanderjaulen. Sobald die Gespanne mit jeweils vier bis acht Tieren losziehen, sind nur noch die Gleitgeräusche der Kufen und das Hecheln der Hunde zu hören. Ihre volle Konzentration gilt der Strecke durch die tief verschneite Wildnis auf extrem trockenem Schnee. Gelegentlich hüpft ein weisser Hase durch den Wald, mit Glück erspäht man einen Polarfuchs. Zurück in der Station macht sich eine weitere Gruppe parat, die gleich mehrere Tage lang per Hundeschlitten eine ganzheitliche Naturerfahrung fernab jeglicher Zivilisation erleben wird.
Die wenigen Orte im finnischen Teil von Lappland haben sich aktiven Winterferien verschrieben. Levi etwa trägt seit 2004 Weltcup-Rennen aus und zieht viele Wintersportler an. Doch kommt kaum ein Schweizer zum Alpinski nach Lappland, eher noch geht es auf die 230 km langen Langlaufloipen. Äkäslompolo am Ylläsfjäll bietet sogar eine Saunagondel. Der bedeutendste Ferienort Saariselkä etwas weiter nördlich wartet mit allerlei kulturellen Einrichtungen auf. Das Chalet Resort Kakslauttanen mit der weltgrössten Rauchsauna und exotischen Restaurants ist vor allem durch die Glas-Iglus mit Panoramasicht bekannt. Dessen eisiges Schneeiglu mit Schneekapelle auf dem Areal buchen finnische Hochzeitspaare lange im Voraus. Weiter südlich in Rovaniemi, der Hauptstadt von Finnisch Lappland, ist der Weihnachtsmann daheim: Im Santa Claus Village begrüsst er Jung und Alt das ganze Jahr über.
Am zweiten Abend blicken gespannte Gesichter der neu angekommenen Gäste auf Reiseleiterin Fabienne im Oliver‘s Corner Pub im Zentrum von Levi. Viele mögen sich beim ersten Besuch in Finnland noch nicht zurechtfinden und sind dankbar für lokale Tipps. Die Finnen stehen den Schweizern in ihrer Mentalität übrigens ziemlich nahe, sie sind ebenfalls zunächst abwartend auf dem ersten Blick, dann aber sehr hilfsbereit. Etwa wie Heidi von der örtlichen Agentur, die weitere Details zu den Ausflugsmöglichkeiten gibt.
Den Sami genannten Ureinwohnern Lapplands begegnet man eher selten, allenfalls auf den Rentierfarmen. Von deren Kreativität und Naturverbundenheit zeugen die handgemachten Produkte wie Handschuhe, Trachtenmützen oder Waren aus Rentierfell und Holz in den Souvenirgeschäften, endlich mal etwas Brauchbares ohne Kitsch.
Einen Spaziergang vom Zentrum entfernt liegen die ersten Blockhütten an verschneiten Nebengassen, manche aus rohen Baumstämmen gezimmert, andere mit roter Holzfassade. Beim Betreten offenbart sich ein überraschend geräumiges Interieur mit vollständiger Küche, oft sogar mit eigener Sauna und Terrasse. Das knisternde Cheminée versprüht eine wohlige Wärme in die gemütliche Hütte, ein heimeliges Zuhause für die ganze Woche.
Ein wahrlich cooler Ausflug per Leihwagen führt in den Norden nach Inari, einem verschlafenen Nest am See Inarijärvi. Zunächst ist der Weg das Ziel, denn die epische Breite der ewig weissen Landschaft zwischen Wäldern und Seen zeigt sich in ihrer vollen Pracht. Die Baumzipfel fügen sich zu bizarren Formen zusammen, als ob wir die sagenhafte Eislandschaft von Narnia durchqueren. Unterwegs sorgen vereinzelte Häuser für überraschende Farbtupfer in der Einsamkeit. Der aufsteigende Qualm der Schornsteine verspricht einladende Wärme, am liebsten möchte man einkehren und in die Kochtöpfe schauen. Drei Viertel von Finnland sind mit Wald bedeckt, überwiegend Nadelbäume. Die Forstwirtschaft schützt die Wälder als „Grünes Gold“, der jährliche Zuwachs übersteigt gar die Abholzungen.
Eine Nacht im Hotel Inari direkt am See ermöglicht eine prächtige Sicht in die sternenklare Nacht. Mit etwas Glück zeigt sich das Polarlicht wie auf einer Leinwand mit pinkfarbenen oder grünen Schleiern in gemächlich abwechselnden Formen. Die eindrucksvolle „Aurora Borealis“ zieht jeden in ihren Bann.
Das spannende Siida-Museum in Inari erzählt die Geschichte der Sami, die ursprünglichen Einwohner Lapplands. Seit dem Mittelalter wurden sie konsequent unterworfen, erst im Jahre 2000 wurde ein samischer Nationalfond eingerichtet, um Kultur und Sprache sowie die Rechte als Volk wieder zu stärken.
Wer sich nicht auf den Weg nach Inari macht, kann sich am Slalomhang in Levi in der UNESCO-Ausstellung „Samiland“ über deren karges Leben informieren. Im Aussenbereich der Ausstellung mit verschneiten Tipis und putzigen Holzhäuschen freuen sich die Rentiere gerne über eine zusätzliche Fütterung. Das gegenüber gelegene Panorama Hotel bietet übrigens ein ganz passables, täglich abwechselndes Mittagsbuffet. Alternativ wird man bestimmt in einem der sechs Restaurants des Resorts „Hullu poro“ („verrücktes Rentier“) fündig.
Unbedingt ausprobieren: eine Schneeschuhwanderung am späten Abend. Das Thermometer sinkt bis auf minus 30 Grad. Mit Taschenlampenhelmen ausgerüstet, ist die klirrende Kälte zunächst am ganzen Körper zu spüren. Doch kaum setzen sich die Gleichgesinnten in Bewegung und erreichen den Fjäll, ist nur das Knirschen im Schnee zu hören. Diese traditionelle Art der Fortbewegung gibt schnell Sicherheit, der steile Abstieg gelingt mühelos.
Vor allem das langsame Tempo, die menschenleeren Strassen, die Verbundenheit mit der Natur sowie eine absolute Ruhe bleiben nachhaltig in Erinnerung. „Slow down“ ist hier Lebensgefühl: gemütlich in der Blockhütte ein Buch lesen, Zeit für anregende Gespräche nehmen und wirklich zu sich finden. Die atemberaubende Stille besonders ausserhalb der Orte wirkt ansteckend, ein willkommener Ausgleich zum hektischen Alltag.
Veröffentlicht in vivai (Zürich), Ausgabe 6/2012, Dezember 2012, Seite 40-43