Die Prager Musicalszene hat unlängst die Wiederholung als belebendes Element entdeckt. Seit dem Boom Mitte der Neunziger entstanden unzählige kleine Musicals, die sich häufig nicht an die Qualität ihrer Vorgänger anknüpfen ließen. Auch der Einsatz von Welthits à la ‚Cats‘ und ‚Miss Saigon‘ war trotz erstklassigen Produktionen noch kein Garant für andauernden Erfolg. Wer gut gemachte Musicalproduktionen sehen möchte, wird hauptsächlich im städtischen Theater Karlín fündig, ob mit Klassikern wie ‚Nacht auf Karlstejn‘, neuen Werken wie Frank Wildhorns ‚Carmen‘ oder internationalen Hits wie ‚The Producers‘.
Derzeit besinnen sich die Theatermacher anderer Häuser ihrer besten Stücke. Im Theater Kalich wurde bis vor kurzem wieder das Kultmusical ‚Krysar‘ (Rattenfänger) gegeben, ab September startet dort eine rundum erneuerte Version von ‚Johanka z Arku‘ (Jeanne d’Arc) und das Theater Broadway hob ‚Kleopatra‘ wieder aus der Mottenkiste, wenn schon die neueren Produktionen wie ‚Mona Lisa‘ nicht so recht einschlagen wollten.
Ende 2006 wurde ein weiteres Musicaltheater in Prag eröffnet, und zwar mitten im Zentrum am Platz der Republik gegenüber des Gemeindehauses. Das ehemalige Kloster der Hyberner mit seiner klassizistischen Form diente schon im 18. Jhd. als Theater. Das aufwändig rekonstruierte Haus mit 960 Sitzplätzen im einstigen Kirchenschiff spielt blockweise einheimische Produktionen.
Es wurde mit ‚Golem‘ eingeweiht, dem letzten Werk des zu früh verstorbenen Komponisten Karel Svoboda. Auf dieser Bühne hielt im Februar 2009 mit Svobodas ‚Dracula‘ das erfolgreichste einheimische Musical aller Zeiten Einzug und erlebt somit nach 2003 sozusagen seinen dritten Prager Frühling.
Seit der Uraufführung am 13. Oktober 1995 wurde das Werk neben seiner Originalspielstätte im Prager Kongresszentrum u.a. auch in Bratislava, Seoul, Moskau, Basel, Tecklenburg, Antwerpen, Liechtenstein und Rostock aufgeführt, außerdem auch in Frankreich und der Türkei. Eine ganze Reihe von Regisseuren setzte sich mit dem Stoff auseinander, der bekanntlich nicht viel mit dem gleichnamigen Roman von Bram Stoker zu tun hat. Dabei entstanden einige gute Ideen, um insbesondere den im Original etwas abfallenden dritten Teil der Handlung zu beleben.
Somit stellte sich von vorne herein die Frage, ob bei der Wiederaufnahme die Originalproduktion ins Divadlo Hybernia gebracht oder ob die Chance zu einigen Änderungen 14 Jahre nach der Uraufführung wahrgenommen wurde. Um es gleich vorwegzunehmen: Der damalige wie heutige Regisseur Josef Bednárik schuf tatsächlich eine angepasste Version, allerdings ohne wirklich viel zu verändern.
Zunächst einmal musste die extrem breit konzipierte Bühnengestaltung aus dem Kongresszentrum an die schmalere Situation im Hybernia-Theater angepasst werden. Daniel Dvorák, einstiger Intendant des Nationaltheaters, gestaltete ein aufwändiges Bühnenbild mit vielen verspielten Elementen und zwei Augen als gelegentlich verwendete Metapher.
Die fehlende Breite von anno dazumal wurde durch den Einsatz einer Drehbühne wettgemacht. Aus Platzgründen wird erneut auf ein Liveorchester verzichtet, der Ton kommt vom Band. Neu ist die englische Übersetzung auf einem extrem hoch über der Bühne angebrachten Display, was durchaus vom Geschehen ablenkt.
Neu sind auch die Kostüme von Roman Solc, die sich überhaupt nicht an die einstigen Gewänder von Oscar-Preisträger Theodor Pistek anlehnen, sondern von Grund auf recht verziert gestaltet wurden. Dracula trägt keine klirrende Rüstung, sondern viel Leder und orientalischen Umhang, im zweiten Teil sogar einen weißen Anzug. Adriana sieht mit ihrem sehr verzierten Kleid und ihrer hoch gesteckten Perücke wie eine Prinzessin aus, Lorraine wirkt in ihrem Hellblau geradezu verführerisch. Die Stockers kommen in ihren gefleckten Straßenanzügen recht militant daher, während die Szene der Stocker-Mädels „Sexy musst Du sein“ an eine freizügig gestaltete Misswahl auf dem Laufsteg erinnert. Die Kostüme sind den Rollen entsprechend passend gewählt, verzichten aber auf eine gewisse Schlichtheit.
Die Handlung selbst wurde schon mehrfach in „musicals“ beschrieben, z.B. in den Ausgaben 68 (Prag), 102 (Wiederaufnahme Prag), 107 (Basel) und 121 (Balzers). Widmen wir uns also hauptsächlich den Unterschieden. Wie gelegentlich in Prag anzutreffen, beginnt die Vorstellung bei voller Beleuchtung mit der Ouvertüre, währenddessen eine Landkarte von Transsylvanien zur Einstimmung der Lokalität gezeigt wird.
Die drei Epochen, ursprünglich ins 15. Jh., 18. Jh. und 1995 gesetzt, erstrahlen nun als 1324, 1878 und 2088 – was im letzten Teil freilich übertrieben ist. Statt wie ganz früher einen echten Dreiakter mit zwei Pausen zu spielen, sind die ersten beiden Epochen wie in der 97er Jubiläumsversion miteinander verbunden.
Eine der eindrucksvollsten Szenen gleich zu Beginn ist der Überfall des Klosters durch Dracula und seine Bande. Hinter dem Priester ist eine Wand aus kleinen Steinchen mit Heiligenbildern aufgebaut, deren Zusammenstellung sich in zwei große Augen formt. Diese Wand bricht leider nicht wie in der Originalinszenierung angesichts des mächtigen Draculas hervor. Stattdessen fährt die Augenwand nach oben und von der enormen Tiefe der Bühne kommt Dracula nach vorne. Durch Fackeln und Rauch wird der Tiefeneindruck noch verstärkt.
Wie früher werden das Zimmer von Adriana, später auch die Gruft Draculas und das Labor des Professors als separate Räume aus dem Boden nach oben gefahren. Ein hohes Gemälde in Adrianas Gemächern zeigt den Dracula-Darsteller der aktuellen Vorstellung, wobei dieser eben nicht wie im Original in dem Duett „Wir zwei“ aus dem Bild heraustritt.
Bei den Szenen in der Burg wurde eine Rundtreppe auf einer Drehbühne eingesetzt, für die nötige Stimmung wie in einem Verließ sorgen vor allem verschieden große Kerzen. Die Feier zur Entdeckung der Unsterblichkeit Draculas wirkt jedoch akustisch stumpf und optisch übertrieben.
Der Übergang zum zweiten Teil zeigt Lorraine noch in London beim Beginn ihrer Reise nach Transsylvanien, jedoch winkt ihr Bruder Steven nur zum Abschied und fährt noch nicht mit. Die drei violett gekleideten Nymphen erinnern an das Original, eine sitzt auf einer langen Schaukel. Dracula erwacht beim mitternächtlichen Glockenschlag in seiner Gruft und schaut andächtig auf das überproportionale Gemälde von Adriana. Kleine Details wie eine umherfliegende Fledermaus erhöhen die Aufmerksamkeit zur Handlung.
Erst nach dem ebenfalls in Violett-Tönen gehaltenem Ball kommt Steven auf die Bühne und sucht Lorraine, ohne vorher sichtbar in der Gegend angekommen oder im Schloss gewesen zu sein. Der bucklige Diener überlegt mit einem musikalischen Mozartzitat, was er mit Steven anstellen sollte – dabei lebte Mozart bereits ein Jahrhundert zuvor, also wurde das Jahr 1878 diesmal unpassend gewählt.
Ein Merkmal dieses Musicals ist die Vielzahl einprägsamer Melodien. Lorraines Arie “Hab mich an dich verloren” fehlt es in der Wiederaufnahme allerdings an Wirkung, denn sie sitzt nur lässig auf einer Treppe in einem spärlichen Kleid ohne erkennbare dramaturgische Unterstützung ihres Gefühlslebens.
In der Originalversion fiel der dritte, in London spielende Teil der Gegenwart mit der Rockerband Stockers (benannt nach Bram Stoker) im Vergleich zu den ersten beiden Bildern ab. Karel Svoboda räumte anlässlich der deutschsprachigen Uraufführung 2004 in Basel bereits ein, dass hier noch Potential zum Ändern wäre. Dies gelang auch in einigen Produktion wie in Liechtenstein, wo beispielsweise eine glaubwürdigere Personenregie durch die Trennung von Adriana und Sandra mit zwei Darstellerinnen erzielt wurde.
Regisseur Josef Bednarik nahm sich daher vor allem des dritten Teils an und sorgt für einige Überraschungen. Zunächst fährt von oben eine abgewrackte Hausfassade mit allerlei Graffiti und einer angebauten Toilette herunter, die an die Innenseite eines besetzten Hauses erinnert. An die Stelle der damaligen Motorräder tritt bzw. fährt ein alter Trabbi, der aus Sicht des Jahres 2088 zu perfekt aussieht, er müsste ja mindestens 100 Jahre auf dem Buckel haben. Ein Mitglied der Gang schaukelt auf einem alten Reifen, die anderen Mitglieder singen und tanzen zu überlauter, moderner Discomusik à la 2088. Doch Moment, wir sind ja im Musical Dracula, also schaltet Sandra den Retrostil ein, womit der dritte Teil nun auch musikalisch beginnt.
Die erwähnte Wand dient gelegentlich auch als Leinwand mit projizierten Menschengruppen, deren Auswahl sich bis zum Ende nicht unbedingt erschließt. Von unten fährt das Labor des Professors hoch, der Dracula gerade zum Leben erweckt. Nur mögen die Röhrenmonitore nicht ins Jahr 2088 passen. Humorvoll wird dagegen Draculas Körperzustand auf eine Leinwand projiziert. Dracula öffnet rechts des Labors das über Jahrhunderte aufbewahrte Gemälde Adrianas, das einmal mehr eine Schlüsselrolle in der Handlung hat, weil Lorraine es später endlich entdeckt und sich ihrer Rolle der ewigen Zweiten bewusst wird.
Die Darstellung des Casinos mit einem mächtigen Roulettetisch erinnert an das einstige Bühnenbild, auch die Tanzszenen mit hoch geworfenen Jetons wurden beibehalten. Bei der ersten Begegnung Draculas mit Sandra steht sie weit entfernt auf (!) einem Roulettetisch in Adrianas Kleid und haut Dracula förmlich aus den Socken.
Als gestalterischer Höhepunkt des dritten Teils wurde auch diesmal die Verfolgungsjagd zwischen Dracula und Bandenführer Nick mittels sehenswerter Projektion realisiert und zwar gerade so, als wenn sich Dracula in eine Fledermaus verwandelt hätte. Diese Computeranimation wurde neu aufgenommen und passt wie damals perfekt zur entsprechend komponierten Musik. An dieser Stelle mussten sich andere Regisseure etwas ausdenken, um diese lange musikalische Stelle geschickt zu überbrücken.
Bevor es zum Kampf Draculas gegen die ganze Bande kommt, darf er noch eine überdimensionierte Glaswand vor der Häuserfassade einschlagen. Als der Professor seinen Meister retten möchte, wird er vom Trabbi überfahren und stirbt auf der Motorhaube.
In der Szene vor dem jüngsten Gericht erscheinen wie gehabt alle bisherigen Opfer Draculas in weiß, tragen jedoch diesmal lange Bettlaken als Band der Vergangenheit. Sandra legt ihm Adrianas Kleid zu Füßen und lässt oben auf der hinten gelegenen Treppe das Tageslicht herein, allerdings diesmal in Form einzelner Sonnenstrahlen in alle Richtungen anstelle der ursprünglichen Stadionbeleuchtung mit dem Aufwachen-Effekt.
Viele Änderungen des dritten Teils waren notwendig, das Ganze wirkt aber immer noch unpassend im Vergleich zu den ersten beiden Epochen. Aber ist dies nicht ein echtes Spiegelbild unserer Gegenwart? Es hätte nur nicht gerade ein Trabbi im Jahre 2088 sein müssen.
Im Mai 2009 feierte der dank ‚Dracula‘ zum Star gewordene Daniel Hulka ein Jubiläum: eintausend mal verkörperte er den Titelhelden, praktisch die Rolle seines Lebens. Dracula ist aber nicht nur Hulka: eine grandiose stimmliche und darstellerische Leistung erbringt vor allem Marian Vojtko in der Titelrolle, weil er alle Facetten in der Lebens- und Leidensphase des Dracula noch intensiver durchlebt, seinen kräftigeren Bariton noch besser in Szene setzen kann als Hulka. Vojtkos Entdeckung der Unsterblichkeit in „Gott, wenn es Dich gibt“ zeugt von seiner enormen Bühnenpräsenz, seine Arie „Draculas Monolog“ sorgt für Gänsehaut-Gefühl.
Auch in anderen Rollen kehren neue Besen gut: die Doppelfigur Adriana/Sandra vermag Kamila Nývltová mit ihrer Jugendlichkeit und klaren Stimme überzeugend zu füllen. Als Lorraine treffen wir mit Leona Machálková auf eine Vertreterin der Originalbesetzung. Leider überzeugt sie als Lorraine nicht so wie damals als Adriana/Sandra; die Arie „Hab mich an Dich verloren“ berührt leider nicht so sehr wie bei der alternierenden Monika Absolonová, mal ganz abgesehen von der einst so omnipräsenten Lucie Bílá, die den Erfolg des Musicals in den ersten Jahren so prägte. Doch zugegebenermaßen passen die Stimmen von Vojtko und Machálková in den Duetten gut zueinander.
Die Dreifachrolle als Clown, Diener und Professor, die in der deutschen Übersetzung den Namen Scapino trägt, bekleidet nicht mehr der beliebte Jirí Korn mit seiner rauen Stimme, sondern je nach Vorstellung drei völlig voneinander verschiedene Charaktere. Jirí Langmajer gefällt besonders als Clown mit ansteckender Spielfreude; der einstige Totengräber im Hamlet-Musical Tomás Trapl überzeugt vor allem als buckliger Diener, während Ales Háma als Professor ganz den Einstein verkörpert.
Die Rolle des Steven bekleidet der erste Sieger von „Tschechien sucht den Superstar“ Tomás Savka, der bereits in ‚Miss Saigon‘ und anderen Musicals seine Bestimmung finden konnte. Die kleine Rolle füllte er ordentlich aus, ohne in der Arie „Ein schrecklicher Verdacht“ an den Maßstab von Patrick Biagioli aus der Basler Inszenierung heranzureichen. Den Priester spielt Jirí Brezík mit stoischer Ruhe und beschwörender Opernstimme; als glaubhafter Bandenanführer Nick ist wie schon früher Martin Posta ein sicherer Wert.
Einstige Besucher der Originalversion mögen angesichts der Choreographie schmunzeln, denn Schritt für Schritt gibt es ein Déjavù. Tatsächlich lässt Richard Hes von den Darstellern und den Tänzern seiner Gruppe UNO exakt dieselbe Einstudierung wie damals im Kongresszentrum spielen. Auch die drei Blutstropfen von Regisseur Josef Bednarík als typisches Erscheinungsmerkmal vieler seiner Inszenierungen tragen nach wie vor jeden Verstorbenen in roten Gewändern zur Seite und “beleben” die Aufführung.
Ergriffen sind die Zuschauer spätestens nach dem letzten Vorhang bei den eingeblendeten Gesichtern der beiden verstorbenen Schöpfer Karel Svoboda und Zdenek Borovec. Die Neuaufnahme nutzt die Chance einer radikalen Änderung nicht, die man nach 14 Jahren hätte erwarten dürfen. Dadurch fällt der dritte Teil wie früher deutlich ab – der Einsatz des Trabbis vermag diesen Eindruck nicht zu beleben. Doch wer weiß, wie Dracula aussehen würde, wäre das Stück von vorneherein für dieses Theater im Jahr 2009 konzipiert worden. Die Originalversion bekommt jedenfalls einen Heiligschein mehr und wer die Musik mag, kommt um einen weiteren Besuch in Prag ohnehin nicht herum.
Ab 2010 wird im Divadlo Hybernia mit ‘Baron Prasil’ wieder ein neues Stück gespielt, danach gibt es Dracula nur noch auf DVD – allerdings in der neuen Fassung. Und diese überstrahlt trotz kritischer Anmerkungen die meisten neuen Prager Musicalproduktionen (mit Ausnahme von ‘Carmen’) noch um Längen.
Veröffentlicht in musicals (München), Ausgabe 138, August 2009, Seite 82/83