Oscary na Vltavě

Klappe 1: Triest. Am Hauptbahnhof der norditalienischen Hafenstadt trifft der Schnellzug Pendolino auf dem zweiten Bahnsteig ein, den eine schöne Frau im letzten Moment gehetzt betreten wird. Dies ist eine Szene aus dem neuen James Bond „Casino Royale“, der in der ersten Hälfte des Jahres 2006 überwiegend in Tschechien aufgenommen wurde. Der Bahnhof von Triest ist in Realität der Hauptbahnhof von Prag, der während der Dreharbeiten bei vollem Betrieb fast nicht gesperrt, allerdings mit italienischen Aufschriften behängt wurde. Der Pendolino fährt inzwischen tatsächlich regulär auf tschechischen Gleisen, vorwiegend von Prag über Olomouc nach Ostrava.

Klappe 2: Montenegro. In einem Küstenrestaurant an der Adria werden geheime Dinge beim Essen besprochen. Diese Szene wurde in der mittelalterlichen Stadt Loket in Westböhmen eingespielt. Das gesamte Zentrum war währenddessen abgesperrt, alle zur Verfügung stehenden Betten belegte der Filmstab.

Klappe 3: Krankenhaus. Nach einer schweren Verletzung wird ein uns wohlbekannter Spion operiert. Nicht weit entfernt von Loket entdeckten die Scouts in der Kleinstadt Planá vor Marienbad ein erst vor kurzem geschlossenes Krankenhaus, das sich die Stadt nicht mehr leisten konnte. Für die Einnahmen durch die Dreharbeiten wurde es noch einmal fit gemacht, soweit es für die dort entstandenen Szenen reichte.

Schließlich verwandelte sich das Bad Lázně I. in Karlsbad in ein Casino. Die Lokalpresse an den jeweiligen Drehorten begleitete James Bond regelmäßig, meist wurde über das damals noch nicht gewählte Bondgirl spekuliert oder über den neuen Darsteller Daniel Craig berichtet, der sich im Kampf mit einem Stuntman zwei vordere Zähne abgebrochen hatte. Ein eigens eingeflogener Zahnarzt aus England durfte dies wieder richten.

„Casino Royale“ ist der zwischenzeitliche Höhepunkt des tschechischen Filmbusiness, das inzwischen zu einer großen Industrie und Einnahmequelle herangewachsen ist. Vormals reine Dienstleistungsunternehmen wie Stillking beteiligen sich inzwischen an den ausländischen Produktionen. Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht wenigstens eine internationale Werbung in Prag entsteht. Auch Remakes haben derzeit Saison: der Horrorfilm „Das Omen“ erhielt im Juni 2006 eine Neuauflage von Regisseur John Moore, und die Geschichte des historischen Films „Der Illusionist“ (im Kino ab August 2006) von Neil Burger stellt Wien im Jahr 1900 dar.

Seit Mitte der Neunziger wurden in Prag so viele Filme gedreht, dass interessierte Cineasten einen fiktiven Rundgang auf den Spuren der Filme absolvieren können. Dieser beginnt im Herzen der Altstadt. Eine der ersten Szene von „Van Helsing“ (2004) stellt eigentlich Paris dar: Dr. Jekyll bzw. Mr. Hyde stürzt von der Notre Dame, landet allerdings auf dem Altstädter Ring. Tom Cruise begab sich in „Mission Impossible“ (1998) auf demselben Platz in ein fiktives Restaurant namens Aquarium, in dessen Mitte eben ein riesiges Aquarium stand. Seine Gegner schossen auf das Becken, das sich komplett auf dem schönen Marktplatz entleerte. Diesen zu mieten, kostet pro Tag etwa 90.000 Kronen (ca. 3.100 €).

Ein gern verwendetes Gebäude am Jan-Palach-Platz ist das Rudolfinum, der beeindruckende Sitz der Philharmonie. Bei dem Hitler-Film „The Rise of Evil“ (2003) stellt es den Reichstag dar. In „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ (2002) mit Sean Connery mimt es die Bank of England, in der sich die Protagonisten das erste Mal treffen. Erstaunlicherweise sieht man im Film die Straße vor dem Rudolfinum parallel weiterlaufen, als ob dort keine Moldau fließen würde. Connery und Co. wohnten im unweit gelegenen Hotel Four Seasons und wurden durch die Jahrhundertflut am 13. August 2002 überrascht, den Rest seines Aufenthaltes verbrachte er gemeinsam mit anderen Gestrandeten in einer Sporthalle. Connery bezeichnete diese Zeit als den intensivsten Teil seines Engagements in Prag und sorgte dafür, dass die Premiere in der Moldaumetropole gefeiert wurde.

In keinem Film ist soviel von Prag zu sehen wie in „xXx“ (2002) mit Vin Diesel. Die finale Jagd auf der Moldau endet auf der Karlsbrücke, die glücklicherweise nicht in die Luft fliegt. Dort beginnt wiederum „Mission Impossible“ mit einer Explosion auf der darunter liegenden Kampainsel. Die Brücke ist mit einer Tagesmiete von 250.000 Kronen (etwa 8.800 €) der teuerste Drehplatz der Stadt. Auch in „Oliver Twist“ (2005) ist die Karlsbrücke mit dem Treppengeländer in Richtung Kampa zu sehen: dort verrät eine Prostituierte den Aufenthaltsort des Titelhelden und wird dafür später umgebracht.

Der Weg über die Karlsbrücke auf die Kleinseite führt zurück zu „Van Helsing“: der Budapester Ball wird tatsächlich im Inneren der Kirche St. Nikolaus am Kleinseitner Ring abgehalten. Zunächst hatte das Kulturministerium diese Aktion wegen Bedenken um Vampire in einer Kirche und aus Angst um die wertvollen Fresken verboten, das Erzbischofstum hatte die Aufnahmen allerdings bewilligt. Ein weiterer Grund für die öffentlich geführte Debatte war die Notwendigkeit, einige Sitzbänke herauszunehmen und dadurch einem Kamerakran Platz zu machen. Schließlich wurde trotz aller Einwände für einen hohen Betrag gedreht wie geplant.

Neben nationalen und internationalen Filmen ist Prag außerdem die Heimat so populärer Fernsehserien wie „Pan Tau“ über den kinderfreundlichen Herrn mit Melone oder „Das Krankenhaus am Ende der Stadt“, dem Vorreiter aller heutigen Arztserien von „Schwarzwaldklinik“ bis „Alle Fälle Stefanie“. Seit Anfang der Neunziger entstehen in loser Fole total 104 Episoden des „Kommissar Maigret“ nach den Kriminalromanen von Georges Simenon mit Bruno Cremer in der Hauptrolle. Als altes Paris dient ein verfallenes, von den Renovierungen der letzten Jahre verschont gebliebenes Fleckchen in der Altstadt bei der Kreuzung der Straßen U Milosrdných und U Obecního dvora. Es ist nicht unwahrscheinlich, dort auf alte Autos oder gar Militärfahrzeuge zu treffen. Sogar die Telefonzellen wurden in alte französische Fernsprechhäuschen umgebaut.

Inzwischen genießen tschechische Regisseure hohes Ansehen und eine anschauliche Erfolgsquote. Drei Filme wurden bereits mit Oscars gekrönt und sieben weitere kamen in die enge Auswahl der jeweils fünf besten nicht englisch gesprochenen Filme. Bereits im Jahre 1965 hat „The Shop on Highstreet“ („Obchod na korze“) den ersten Oscar für die tschechische Filmindustrie erzielt. Sehr bekannt ist auch „Closely Watched Trains“ („Ostře sledované vlaky“, 1967) des damals 28jährigen Jiří Menzel nach dem Drehbuch des Schriftstellers Bohumil Hrabal. Die Verbindung von Menzel und dem inzwischen verstorbenen Hrabal findet 2007 eine Fortsetzung, da endlich dessen beliebtester Roman „Ich habe den englischen König bedient“ über einen Kellner im Prager Hotel Paříž verfilmt wird.

Der junge Regisseur Jan Svěrák erhielt schon als Student der Filmakademie einen Preis für seinen umweltkritischen Kurzfilm „Ropák“. Im Jahre 1991 wurde sein „Elementary School“ („Obecná škola“) zum Oscar für den besten ausländischen Film nominiert und 1996 hielt er für „Kolja“ endlich die heiß begehrte Trophäe in den Händen. Dieses Opus eroberte die Kinos in mehr als 40 Ländern und wurde mehrfach im Fernsehen wiederholt. Die bittersüße Komödie handelt vom Privatleben eines alternden Musikers in den Wochen vor der Samtenen Revolution, der dank einer fingierten Hochzeit das Geld für einen gebrauchten Trabant besorgen möchte, doch stattdessen die ungewollte Aufgabe erhält, sich um ein russisches Kind zu kümmern, dessen Sprache er nicht beherrscht. Der Film ist eine Familienproduktion, denn der Vater des Regisseurs Zdeněk Svěřák schrieb das Drehbuch und spielte die Hauptrolle. Das Turmzimmer des alten Musikers mit Blick auf die Kleinseite entstand in den Filmstudios, ansonsten wurden viele Aufnahmen in der Altstadt gedreht. Für die Schlussszenen wurde historisches Material von 1989 integriert, als Hunderttausende auf dem Wenzelsplatz standen und mit ihren Schlüsseln geklingelt hatten.

Die tschechischen Barrandov-Filmstudios im gleichnamigen Stadtteil werden auch „Hollywood an der Moldau“ genannt und wurden 1931 von Václav Havels Vater und Onkel gegründet. Drei Jahre später erhielt „Ekstase“ von Gustav Machatý auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen. Aufsehen erregte vor allem die nackte Hedvige Kiesler, denn damals war längst noch nicht soviel Entblößtes zu sehen wie heute. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Studios der Propagandaabteilung des deutschen Reichs zugeteilt und produzierten heitere Unterhaltungsstreifen mit Heinz Rühmann, Lida Baarová und anderen Volksschauspielern.

Seit der Verstaatlichung 1948 entstanden hier unter anderem viele der berühmten Märchen. In der kurzen gelockerten Zeit zum Prager Frühling Mitte der Sechziger etablierten sich einige junge Regisseure, die mit ihren neuen Ideen als Neue Welle bezeichnet wurden. Unter ihnen waren auch Miloš Forman und Jiří Menzel, die damals in Venedig, Berlin und Hollywood erste Preise einfahren konnten. Durch das gewaltsame Ende durch den Einmarsch der Truppen im August 1968 verließen sie ihr Land oder mussten die Branche wechseln. Einzig Miloš Forman durfte für sein Mozartepos „Amadeus“ (1983) aus dem amerikanischen Exil in seine tschechische Heimat zurückkehren. Für die Darstellung der Uraufführung von „Don Giovanni“ wurder das Ständetheater kurzerhand wieder auf Kerzenbeleuchtung umgestellt. Barbara Streisand produzierte später „Yentl“ (1986), in dem sie auch die die Hauptrolle spielte. Die meisten Szenen des Films wurden im jüdischen Viertel gedreht, unter anderem in der öffentlich nicht zugänglichen Hohen Synagoge.

Seitdem Barrandov nach 1989 die eigene Rolle auf dem internationalen Parkett gefunden hat, gelten die Studios als eine der besten und gleichzeitig preiswertesten Produktionsstätten in Mitteleuropa. Am häufigsten stellt man das alte Berlin sowie die mittelalterlichen Zentren von London und Paris dar. Aus den Anfängen und Zwängen der Vergangenheit wurde ein lohnenswertes Geschäft, das allerdings immer mehr mit der Konkurrenz günstigerer Destinationen wie Rumänien leben muss. Doch mit seiner Professionalität, umfangreichen Ausstattung, hohen Trickkünsten und hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern kann Barrandov viele Standortvorteile für sich behaupten.

Derzeit bieten elf Ateliers total 9.248 m² Innenflächen an, die größte Halle umfasst allein 2.000 m². Für die „Gebrüder Grimm“ (2003) mit Matt Damon und Heath Ledger wurde hier ein Wald mit über 700 Bäumen aufgebaut. Dazu kommt eine Freifläche von 25 Hektar. Vor einigen Jahren entstand zudem ein vier Meter tiefes Außenbecken mit der Fläche 20 mal zehn Meter, das im Winter auf 27°C erwärmt werden kann. Es diente unter anderem für eine Szene mit versunkenen U-Bahn-Waggons im Streifen „Sound Of Thunder“ (2002) mit Ben Kingsley.

Die Außenflächen sind groß genug, um 74 Häuser des alten London inklusive Wasserkanal für „Oliver Twist“ von Regisseur Roman Polanski aufnehmen zu können. Er feierte zum Abschluss der Arbeiten seinen 70. Geburtstag direkt an der Karlsbrücke im Restaurant „U kamenného mostu“. In der großen Halle 6 wurde für den Film „Die Chroniken von Narnia“ (2005) eine rasante Jagd per Eisscholle auf einem zugeschneiten See realisiert. Bis eineinhalb Meter Höhe erreichten die Wellen im 30 mal zehn Meter langen Kunstbecken. Die statischen Berechnungen für die Verdrängung des Wassers besorgte die Prager ČVUT, die älteste technische Hochschule Europas.

Der Requisitenbestand von Barrandov umfasst unter anderem 122 Pferdekutschen, 118 Armeefahrzeuge, 9.000 Rüstungen, 7.000 historische Waffen, 2.500 Sattel mit Pferdegeschirr, 8.500 Möbelstücke verschiedenster Stile, 240.000 Kostüme aller Epochen, 20.000 Schuhpaare und 9.000 Perücken. Was fehlt, wird nachgebaut, zum Beispiel das Wachsfiguren-Kabinett der Madame Tussaud und der Turm des Londoner Parlamentsgebäudes mit dem Big Ben für den in London spielenden Film „Shanghai Knights“ (2002) mit Jackie Chan.

Wer die Filmstudios besichtigen möchte und nach Prag 5 zum Kříženeckého náměstí 5 fährt, steht leider vor verschlossenen Toren. Die Studios sind so beschäftigt, dass es weder einen Stab für Besucherverkehr gibt noch überhaupt Trassen, auf denen Gäste durch die Anlage geleitet werden können. Somit bleibt es beim virtuellen Besuch auf www.barrandov.cz.

Veröffentlicht in Merian (Hamburg), Ausgabe 08/59, August 2006, Seite 96/97

Oskars an der Moldau (PDF)