Das Dutzend ist voll: nach dem Start der Thuner Seespiele im Sommer 2003 mit ‚Evita‘ (siehe „musicals“, Heft 103) zog in diesem Jahr mit ‚Aida‘ bereits zum zwölfte Mal die Kulturbegeisterten der Region nach Thun. Neben drei eigenen Stücken also erneut ein weltbekanntes Werk, das im Vorfeld bereits zu Fantasien anregte, wie wohl der Thunersee den Nil mimen würde und wie weit die Bergkette des Berner Oberlands Ähnlichkeiten mit den Pyramiden von Gizeh aufweisen würden.
Das Bühnenbild von Karel Spanhak erinnerte bei seinem Thuner Debüt an die früheren Produktionen, als ursprünglich nur sehr wenige, überdimensionierte Objekte auf der riesigen Fläche Platz fanden. Passend zum Thema platzierte er eine fast zehn Meter hohe Tutanchamun-Totenmaske auf der Bühnenmitte, auf der zunächst mit Minibus anreisende Touristen in der Gegenwart auf ihrer Führung bei einer ägyptischen Ausgrabungsstätte wandelten und sich nach Eintreten der Gruppe die Maske in der Mitte öffnete wie ein Blick in die Geschichte.
Nach hinten blieb der Blick über den sandfarbenen Boden auf den Thunersee offen und siehe da, der Gipfel des Thuner Hausbergs Niesen rechts der Bühne erinnerte in seiner Form tatsächlich an eine Pyramide. Während der Vorführung stapelten Gefangene im Hintergrund Quader aus Sandstein auf, die bei der letzten Umarmung von Aida und Radames eine neue Pyramide ergaben, bevor sich der Tutanchamun wieder schloss und sich die Nachfahren von Aida und Radames in der Reisegruppe nach dem Besuch erkannten.
Helga Wolff setzte in ihrer frischen Inszenierung vor allem auf die Verwandlung der deutlich gezeichneten Charaktere unter Einbezug des Thunersees. So näherte sich zu Beginn ein Floß mit Darstellern bis zur Bühne. Die farbenfrohen Kostüme von Heike Seidler ermöglichten eine eindeutige Zuordnung von Ägyptern und Nubiern, während die Getreuen von Zoser in ihren düsteren Uniformen die Bösartigkeit ihres Anführers unterstrichen. Optisches Highlight waren die glitzernden Kleider von Amneris und Bikinis ihrer Palastdamen in der Modeshow-Nummer „Mein Sinn für Stil“.
Schon an dieser Stelle begeisterte die kraftvolle Choreographie von Christopher Tölle in seiner dritten Arbeit am Thunersee. Er führte das Ensemble in Thun beim „Manteltanz“ und an weiteren Stellen zu ansteckenden, mitreißenden Tanzorgien. Die eindrucksvoll einstudierten Chorszenen wurden zu den ganz starken Momenten der Vorführung, etwa beim gospelartigen Song „Die Sonne Nubiens“.
Eine hervorragende Leistung bot Patricia Meeden mit kubanischen Wurzeln als Aida mit ihrer traumhaften, soulig anmutenden Stimme. Sie berührte nicht nur mit ihrem vielschichtigen Gesang, sondern spielte die Titelfigur zwischen leidenschaftlich und verzweifelt, dabei authentisch und voller Energie.
Jörn-Felix Alt wirkte als junger Held Radames zunächst rollendeckend arrogant gegenüber den Nubiern, in der Folge bewusst unbedacht gegenüber seiner vorhergesehenen Bestimmung. Im Verlaufe des Abends gelang es ihm, seine anfänglich flache Rolle mit mehr Tiefgang auszufüllen. Akustisch gefielen die Duette „Durch das Dunkel der Welt“ und „Sind die Sterne gegen uns“ mit Aida, wenngleich er stimmlich hinter ihr zurückblieb.
Die Pharaotochter Amneris verkörperte Sophie Berner zunächst verspielt und bewusst oberflächlich als verwöhnte und gelangweilte Hofdame im Stile einer heutigen Popikone. Erst später zeigte sie sich irritiert und verletzt gegenüber der Veränderung, die sie an Radames lange nicht feststellen wollte. Optisch waren vor allem ihre Tanzszenen in den herrlichen Kleidern schön anzusehen.
Den machtbesessenen Zoser verkörperte Armin Kahl nach seiner Erfahrung in dieser Rolle während der Aida-Europa-Tournee vor einigen Jahren mit bösartiger Miene und dunkler Stimmfährbung. Gelungen war vor allem das düstere Duett „Wie Vater, so Sohn“ mit Radames. Sympathisch und aufopferungsvoll gab Manuel Kopez den Nubier-Sklaven Mereb. Als erkrankter Pharao wusste Thomas Wißmann mit seiner würdevollen Darstellung angesichts des bevorstehenden Todes zu gefallen. Aidas Vater Amonasro spielte der stimmkräftige Walter Reynolds, während Rebecca Stahlhut die Rolle der Nehebka übernahm.
Das akustische Erlebnis bei ‚Aida‘ war erwartungsgemäß ein wahrer Ohrenschmaus. Der musikalische Leiter Iwan Wassilewski führte das 15köpfige Orchester gewohnt sicher zu einer großartigen musikalischen Leistung und Tondesigner Thomas Strebel sorgte für eine perfekte Verteilung des Sounds auf der 2700 Zuschauer fassenden Tribüne, auch die gesprochenen Szenen waren sehr verständlich. Wie in den Vorjahren wurde ohne Pause gespielt, um den Anwohnersorgen versöhnlich zu begegnen; der gekürzten Version fiel z.B. der Song „Einen Schritt zu weit“ zum Opfer, ohne dabei den musikalischen Grundtenor des Musicals zu schaden.
Einmal mehr gelang es den Thuner Seespielen, eine großartige Produktion auf die Gestaden des Thunersees zu bringen und vor allem dank der facettenreichen Musik von Elton John und der Umsetzung des eifrigen Casts das Herz der Zuschauer zu erobern. Das misslungene Sommerwetter vermochte der Begeisterung des Publikums nicht viel entgegenzusetzen, nur zwei Vorstellungen mussten verschoben werden.
Gegenüber den grandios ausgeführten visuellen Effekten bei ‚Titanic‘, dem letzten Stück des Weltrepertoires vor zwei Jahren (siehe „musicals“, Heft 157), blieb die optische Umsetzung trotz des geschickt eingesetzten Lichtdesigns von Serge Schmuki etwas zurück. Das emotionale Gesamterlebnis wurde dadurch jedoch nicht getrübt und man kann schon gespannt sein auf die Darstellung von ‚Romeo & Julia‘ auf der größten Seebühne der Schweiz im nächsten Sommer.
Veröffentlicht in musicals (München), Ausgabe 169, Oktober 2014, Seite 33/34